Frühlingserwachen
„Frühlings Erwachen“ wurde von Frank Wedekind 1890/91 geschrieben und 1906 in den Berliner Kammerspielen von Max Reinhardt uraufgeführt. Zunächst galt das Werk als unaufführbar, wofür damalige Kritiker 3 Gründe nannten:
- Erstens schien der Stoff und die Form seiner Behandlung unter den damaligen Zensurverhältnissen keine Möglichkeiten einer Aufführung zu geben. Aus den gleichen Gründen war eine Ablehnung durch das Publikum zu erwarten.
- Zweitens stellt die Besetzung des Stücks mit seiner großen Zahl jugendlicher Rollen Anforderungen, die ein normales Ensemble nicht erfüllen konnte.
- Drittens waren bühnentechnische Probleme, die der häufige Ortswechsel der Handlung hervorruft, offenbar für eine Zeit unlösbar, in der die Erfordernisse der naturalistischen Moderne massiv gebaute Dekorationen unverzichtbar gemacht hatten. Die Probleme durch die Vielzahl der Szenen konnten selbst später, mit veränderter Bühnentechnik nicht vollständig behoben werden.
Das Urteil, die amtliche Darstellung des Inhalts, wird wie folgt wiedergegeben: „Der Inhalt des Stückes läßt sich dahin gehend zusammenfassen: Es wird dargestellt, wie auf junge, in dem Alter der beginnenden Geschlechtsreife stehende naive Personen die realen Mächte des Daseins einwirken, vornehmlich ihr eigner, erwachender Geschlechtssinn und die Anforderungen des Lebens insbesondere der Schule. Sie erliegen in dem sich entwickelnden Kampfe vor allen deshalb, weil ihre beruflichen Leiter, die Eltern und Lehrer, nach der Auffassung des Dichters in weltfremden Unverstand und aus Prüderie es unterlassen, sie zu belehren und ihnen verständnisvoll helfend die Wege zu weisen. Wendla Bergmann geht unter, weil trotz ihrer Bitte die Mutter es unterläßt, sie über die menschlichen Geschlechtsverhältnisse aufzuklären.
Moritz Stiefel, in Verwirrung gebracht durch die Regung seiner beginnenden Pubertät, durch seine Zweifel über Entstehung und Zweck des Menschen und nicht zuletzt durch die sexuellen Belehrungen seines Freundes, wird erdrückt durch die Aufgaben der Schule, die er nicht erfüllen kann, deren Erfüllung aber der nur hierauf gerichtete strenge Sinn seines Vaters von ihm fordert. Melchior Gabor geht nur deshalb nicht zugrunde weil er Verständnis für das, in einer Personifikation, als vermummter Herr auftretende reale Leben gewinnt und sich von diesem mitziehen lässt. So aufgefasst, lässt sich dem Stück im Ganzen nach seiner Tendenz und seinem Inhalt der Charakter eines ersten Stückes nicht absprechen, es behandelt ernste, vielfach im Vordergrund des Interesses stehende Erziehungsprobleme und sucht zu diesen Stellung zu nehmen. Es ist nicht erkennbar, dass da, wo sittenwidrige Handlungen dargestellt werden, dies geschieht, um sie als etwas Erlaubtes oder Nachahmenswertes hinzustellen, oder gar, um die Lüsternheit der Zuschauer anzuregen oder zu befriedigen. Das Theaterpublikum wird sich dem rein menschlichen Mitgefühl für das tragische Geschick der Hauptpersonen und dem Interesse für den Gang der Handlung und die darin behandelten Probleme nicht entziehen können. Jedenfalls ist nicht abzusehen, inwiefern die Zuhörer daraus Anregung zu eigenem sitten- oder polizeiwidrigen Verhalten empfangen sollten.“
Aus den Erläuterungen zu Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“, Goldmann Verlag, 6/97, Seite 113 ff