Big Brother is watching you oder auch Ich bin ein Gott, der dich sieht
Ich habe einen Schreck bekommen, als ich die Jahreslosung für 2023 vor über einem Jahr zum ersten Mal gelesen habe, da sie mich sehr an George Orwells Roman „1984“ erinnert. Orwell beschreibt einen totalitären Überwachungsstaat im Jahr 1984, wie er sich den im Jahr 1948 (bewusster Zahlendreher) vorgestellt hat: Überall gibt es Mikrofone und Kameras (Teleaugen), eine Gedankenpolizei die Gedankenverbrechen verfolgt und ein Wahrheits- und Liebesministerium ….. Und alles sieht und überwacht, natürlich zum Wohle der Menschen, … „Big Brother – der Große Bruder.
Auch in der Kindererziehung gab es Zeiten, in denen gedroht wurde: „Der liebe Gott sieht alles“, um Kinder zu Wohlverhalten zu bewegen.
Heute geben wir unsere Daten im Internet freiwillig preis. Lassen unsere Einkäufe dokumentieren, unser Bewegungsprofil, Bilder und vieles mehr veröffentlichen.
Ich will doch gar nicht, dass Gott alles sieht! Ich mache ich doch Dinge, die keiner sehen soll, z. B. … (bitte selber ergänzen 🙂 …).
Gott soll doch nur sehen, was ich freigebe – so wie in den (a)sozialen Netzwerken nur sog. Freunde alles sehen dürfen – anderen bleibt der Zugriff verwehrt. So einen Filter würde ich auch gerne Gott vorsetzen, damit er nur das sieht, was ich will – z. B. meine Spenden, mein ehrenamtliches Engagement, was von meinen Mitmenschen oft übersehen oder meiner Ansicht nach nicht wertschätzend genug gewürdigt wird – aber nein… Gott sieht alles – Big Brother is watching you. Wie gehe ich damit um? Dass Gott alles sieht, hat ja zunächst im Gegensatz zu Orwell‘s Roman, wo die Menschen gegängelt, bestraft und gefoltert werden, keine negativen Auswirkungen auf mein Leben – ich kann das also völlig ignorieren.
Oder, da Gott ja alles sieht, kann ich versuchen bei Gott durch wohlgefälliges Verhalten, durch ehrenamtliches Engagement, Plus-Punkte zu sammeln. Ich will bekennen, dieser Ansatz ist mir nicht so ganz fremd: Kassenführung, Ständleseinladungen austragen oder Andacht-Vorbereiten gibt Pluspunkte.
Gern wird ehrenamtliche Arbeit ja auch „Arbeit um Gotteslohn“ genannt, was doch suggeriert, dass da irgendwie und irgendwann mal ein „Lohn“ fällig wird. Aber auch dieser Ansatz ist nicht erfolgversprechend, da wir Gottes Liebe ja als Geschenk – also leistungsunabhängig – erhalten.
Also, was hat mir diese Jahreslosung gebracht? Wie habe ich ein Jahr lang mit dieser Losung – dieser „Drohung“ – gelebt / überlebt?
Vielleicht gibt es ja doch etwas Trost und Zuversicht, was ich von Jahreslosungen ja auch erwarte: Als Nicht-Theologe habe ich mir erlaubt, die Jahreslosung etwas umzuformulieren, so wie ich sie verstehen will: Aus dem Gott, der mich sieht / beobachtet, streiche ich zwei Buchstaben, dann wird daraus:
Du bist ein Gott, der mich beachtet und noch mal zwei Buchstaben weg: Du bist ein Gott, der mich achtet. Also ein Gott, der mich wertschätzt, dem ich nicht egal bin, der mich beachtet und achtet – ja, damit konnte ich dieses Jahr leben – gerne auch noch länger….
Andreas Hasenknopf
(hasenknopf.a@t-online.de)